Fanfiction

Im Fahrstuhl

Autor: Resi

Durch den jetzt etwas breiteren Spalt sahen Sandra und Marie, daß der Fahrstuhl genau zwischen zwei Stockwerken steckte. Der Boden befand sich in ihrer Bauchhöhe, und sie konnten die Beine der Menschen im einen und die Köpfe derer im anderen Stockwerk gleichermaßen sehen. Der Mann, der die Tür aufstemmte, befand sich im oberen der beiden Stockwerke. Er trug einen blauen Overall und hatte noch zwei Kollegen dabei, die ähnlich muskulös gebaut waren wie er und ebenfalls blaue Overalls trugen. Zwei der Männer stemmten jetzt je eine der Türhälften zur Seite. Der dritte hockte sich hin und warf einen Blick ins Fahrstuhlinnere. "Kommen Sie erstmal da raus", rief er, "Ich helfe Ihnen!" Sandra sah zur Seite. "Du zuerst", sagte sie zu Marie, und Marie vertraute sich dem Kraftpaket an, der sie mit einem Ruck auf das obere Stockwerk hiefte, als sei sie so leicht wie eine Feder. Marie war von seiner Kraft sichtlich beeindruckt. Sandra hob schnell den Brief auf, den Marie auf dem Fahrstuhlboden hatte liegen lassen. Dann hob der Mann auch Sandra heraus. Die beiden anderen Männer ließen die Türelemente wieder los, und die fielen krachend wieder zusammen. "Vielen Dank!" Marie bedankte sich überschwenglich bei den kräftigen Rettern. "Ich hätte es auch keine Sekunde länger darin ausgehalten."

Auch Sandra bedankte sich. "Dabei wollte ich eigentlich nichts weiter als zu meinem Zimmer", sagte Marie, noch außer Atem, bedingt durch ihren schwachen Kreislauf. Sie war ein bißchen durcheinander, machte sich auf die Suche nach einer Treppe. Sandra wies ihr den Weg, begleitete sie. "Jetzt auch noch Treppen steigen", seufzte Marie. Sandra stieg hinter ihr die Stufen hinauf, paßte auf, daß Marie nicht vielleicht doch noch einen Kreislaufzusammenbruch erlitt. Doch es ging gut. Als sie im siebten Stock ankamen, waren beide noch mehr außer Atem. Sandra folgte Marie noch bis zu ihrer Zimmertür, und als Marie den Schlüssel in die Tür steckte, hielt sie ihr den Brief hin. "Vergiß den nicht." Marie war es sichtlich unangenehm, daß sie den Brief einfach so hatte liegen lassen. "Oh, entschuldige bitte." Sie zog ihn zwischen Sandras Fingern heraus. Dann lächelte sie sie an. "Ich bin wirklich froh, daß ich da drin nicht allein war", sagte sie. "Danke, daß du so lieb auf mich aufgepaßt hast." "Ich habe ja nicht viel gemacht." "Doch, doch. Mehr als du denkst. Und immerhin durfte ich etwas von deinem Wasser trinken." "Das ist doch selbstverständlich!" entgegnete Sandra entrüstet. Marie legte den Kopf schräg. "Trotzdem danke. - Sehen wir uns morgen?"

Am nächsten Tag sollte erst die eigentliche Promotion-Veranstaltung stattfinden. "Klar!" strahlte Sandra. "Okay. Bis dann." Und dann machte Marie plötzlich einen Schritt auf Sandra zu und nahm sie in ihre Arme. Bevor Sandra begriff, was geschah, hatte sie Maries Umarmung auch schon erwidert, ganz automatisch, wie man es eben tut, wenn man von jemandem umarmt wird. Sie hatte Maries superschlanken Körper in ihren Armen, spürte Maries weiche Wange an ihrer Wange, ihre Brüste an den eigenen, und atmete ihren Duft ein. Beinahe ließen ihre Beine sie im Stich. Nur ein paar Sekunden dauerte die Umarmung, aber auch, nachdem Marie schon die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, konnte Sandra sie noch immer spüren. Ihr Körper war wie elektrisiert, und einen Moment lang glaubte sie, sie würde sich nie mehr bewegen können.

Sie wußte nicht, wie lange sie dort so gestanden hatte, als plötzlich jemand an ihr vorbeiging und direkt vor Maries Zimmertür stehen blieb, jemand, der um einiges größer war als sie selbst, und sie fragend anblickte. Sandra sah zu ihm auf. Es war Per. "Ist sie da drin?" fragte er sie, als sei es das selbstverständlichste der Welt, daß er einen Fan danach fragen mußte, ob Marie in ihrem Zimmer war, und er schien sich nicht einmal darüber zu wundern, daß Sandra überhaupt da stand, wo sie stand. Geistesabwesend nickte sie, und dann klopfte Per an Maries Tür. Sandra trat einen Schritt zur Seite; Marie mußte ja nicht sofort sehen, daß sie immer noch hier stand. Marie öffnete und sprach leise etwas mit Per, was Sandra nicht verstand, doch dann zeigte sie in Sandras Richtung, woraufhin Per sich umwandte und Sandra ansah - offensichtlich erzählte sie ihm gerade, daß Sandra ihr im Fahrstuhl Gesellschaft geleistet hatte.

Dann nahm sie Per mit in ihr Zimmer und winkte Sandra durch den Türspalt noch einmal zu, bevor sie die Tür schloß. Sandra stand wie versteinert. "Sandra!" rief jemand. Sandra reagierte nicht gleich. "Sandra!" Dann drehte sie sich zur Seite. Es war Andrea. "Sandra, du wirst nicht glauben, was passiert ist!" rief Andrea aus. Du auch nicht, dachte Sandra, aber sie sagte nichts, so sehr noch wirkte das Erlebte in ihr nach. Während sie mit Andrea nach unten ging, erzählte Andrea ihr, daß sie mit Per und einem der Bewacher im Fahrstuhl nach oben gefahren sei - ohne dabei steckenzubleiben, allerdings - und daß Per sich oben im Flur ganz viel Zeit für sie genommen hatte und gar nicht ärgerlich darüber gewesen war, daß sie ihm gefolgt war. Sie habe mit ihm gesprochen, der Aufpasser habe Fotos von ihm und ihr gemacht, und sie habe ihm ihren Brief geben können. Die ganze Zeit danach hatten sie auf Marie gewartet, da Andrea mit ihr auch noch Fotos hatte machen wollen, bis sie irgendwann erfahren hatten, daß Marie im Fahrstuhl feststeckte. Andrea war dann irgendwann zur Toilette gegangen, nachdem es ihr zu lang gedauert hatte, und als sie wieder herauskam, sei Marie schon aus dem Fahrstuhl herausgewesen. "Und wo warst du die ganze Zeit?" fragte sie am Schluß nichtsahnend. "Du hast ja alles mögliche verpaßt!" Sandra schmunzelte in sich hinein.

Als sie zusammen unten vor der Eingangstür des Hotels standen, sagte sie bedeutungsvoll: "Ich hab mit Marie im Fahrstuhl gesteckt." "Ach quatsch!" Andrea hielt es für einen Scherz. "Schön wär´s." "Doch, so war es." Andrea sah sie skeptisch an. Sie wußte nicht recht, ob sie ihrer Freundin glauben sollte. Sandra sagte nichts weiter dazu, denn es war ihr egal, ob Andrea ihr glaubte. Sie wußte, daß es stimmte, und sie hatte das eigenartige Gefühl, daß sie gar nicht unbedingt jedem auf die Nase binden wollte, was passiert war. Sie hatte das Gefühl, als sei es eine Art ganz private Begegnung mit Marie gewesen, eine, die in der Öffentlichkeit oder auch nur unter den anderen Fans nichts verloren hatte. Ein kurzer Teil ihres Lebens, den Marie mit ihr geteilt hatte - wenn auch nicht unbedingt ganz freiwillig. Auch Marie würde ja nicht loslaufen und allen Zeitungen von ihren Minuten im Fahrstuhl erzählen. Warum also sollte Sandra dann etwas Ähnliches tun?

Als Sandra und Andrea am nächsten Tag mit all den anderen Fans an der Radiostation standen, bei der Per und Marie zu Gast waren und über ihre neue CD sprechen sollten, warf Marie Sandra bei der Ankunft einen vielsagenden und augenzwinkernden Blick zu, während sie an die anderen Fans Autogramme verteilte. Und als sie die Radiostation wieder verließen, schob sich Marie durch die anderen Fans hindurch zu Sandra und beugte sich zu ihr heran: "Ich habe deinen Brief gelesen. Danke. Und danke auch nochmal für deine Gesellschaft gestern." Und dann verschwand sie zusammen mit Per in einer großen, schwarzen Limousine. Andrea sah Sandra mit großen Augen an. Auch die anderen Fans starrten Sandra ungläubig und neidisch an und einer fragte sich mehr als der andere, was Sandra mit Marie zu tun hatte, was sie so wichtig machte, daß Marie extra noch einmal zu ihr ging. Sandra dagegen stand nur da und grinste breit und war der glücklichste Mensch der Welt.